Pressearchiv 2008

 

Aktuelle Kosten-Nutzen-Diskussion von Krebstherapien

Krebsgesellschaft warnt vor übereilten Einschätzungen durch die Kostenträger und legt nun Gutachten vor.

Berlin, 21.07.2008. Die Verteilungsprobleme innerhalb des deutschen Gesundheitssystems werden immer eklatanter. So wünschenswert es ist, dass immer mehr Krankheiten behandelt werden können, dass die Verfahren dazu immer differenzierter werden und dass damit die Lebenserwartung der Menschen steigt, so problematisch gestaltet sich die Finanzierung dieses Fortschritts.

Die Onkologie steht bei dieser ethisch und sozial höchst explosiven Thematik wie kaum ein anderer Fachbereich im Blickpunkt des öffentlichen Interesses. Die Deutsche Krebsgesellschaft hat auf diesen Bedarf reagiert und ein Gutachten erstellen lassen, in welchem untersucht wird, wie und in welchem Ausmaß spezifische Eigenheiten onkologischer medikamentöser Therapien bei der Durchführung von Nutzen- und insbesondere Kosten-Nutzen-Bewertungen zu berücksichtigen sind. „Bevor die Kostenträger hier zu voreiligen Einschätzungen kommen, haben wir unsere Expertise genutzt, um mit Blick auf die Ressourcen, aber im Sinne der uns anvertrauten Patientinnen und Patienten, Empfehlungen aussprechen zu können“, erklärt Prof. Dr. Werner Hohenberger, Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft, zur Veröffentlichung des Gutachtens in Berlin. „Wenn es um den Versorgungsanspruch von circa fünf Millionen an Krebs erkrankter Menschen in Deutschland geht, müssen wir Stellung beziehen, schließlich sind wir es, die jeden Tag am Bett der Patienten um deren Überleben ringen“, so Hohenberger weiter. 


Das heute in Berlin vorgestellte Gutachten umreißt deshalb auch den Versorgungsanspruch vor allem der Mitglieder der GKV, sofern er die Erstattungsfähigkeit und mögliche Leistungsausschlüsse neu entwickelter und allein deswegen bereits oft teurer medikamentöser Therapien betrifft. Wichtigste Erkenntnis: Verschiedene Gesetze, Richtlinien, Urteile (z. B. „Nikolaus-Urteil“ des BVG vom 6.12.2005) und Empfehlungen müssen unbedingt harmonisiert und anwendbar gemacht werden. Grundlegend dafür ist die „Relation zwischen dem zusätzlichen Nutzen und den zusätzlichen Kosten im Vergleich zu bereits bestehenden therapeutischen Alternativen“; die Bestimmung dieser Relation speziell für onkologische Therapien gestaltet sich jedoch in mehreren Aspekten schwierig. Im Nachvollzug dieser Schwierigkeiten kommt das Gutachten zu folgenden wesentlichen Ergebnissen:

Sowohl die Nutzen- als auch die Kostenbewertung für sich genommen weisen spezifische Eigenheiten auf. Aufgrund der Schwere, Komplexität und Heterogenität von Krebserkrankungen kommt es dadurch zu Konflikten in der kombinierten Kosten-Nutzen-Bewertung, die sich häufig zu einer Entscheidung über die verbleibende Lebensdauer und Lebensqualität der Patienten zuspitzen.

Studien zur Bestimmung des Nutzens eines Medikamentes werden bislang als RCT (randomisierte klinische Studien), oft auch in Form von Cross-over-Designs durchgeführt. Vorgaben der Zulassungsbehörden und vor allem ethische Bedenken können hier bereits Einfluss auf die Methodik der Studien haben, sodass ein eventueller Zusatznutzen „nicht in seinem vollen Umfang nachgewiesen werden kann“. So werden die meisten Medikamente zumeist als Second- oder Third-line-Therapien untersucht, das heißt an „Patienten in palliativer Situation“, um den noch heilbar Erkrankten nicht die bewährte Therapie vorzuenthalten. Aus demselben Grund besteht bei Cross-over-Studien die Möglichkeit, bei entsprechender Wirkung eines Medikamentes vom Vergleichsarm zur neuen Therapie zu wechseln. All dies „verzerrt“ die Ergebnisse und erschwert die Bewertung des Zusatznutzens im Vergleich zur möglichen Standardtherapie.

Die mögliche Standardtherapie stellt jedoch selbst ein Problem dar. Da Krebs in vielen Fällen einen langwierigen und individuellen Verlauf nimmt, fehlt eine vergleichbare Standardbehandlung umso häufiger, je länger sich die Erkrankung hinzieht. Es „dürfte schwierig sein“, Kosten-Nutzen-Bewertungen auf alle Stadien „des Krankheitsverlaufs und seine Therapieoptionen“ gleichermaßen anzuwenden, erklärt Prof. Dr. Jürgen Wasem, Verfasser des Gutachtens. Dieser „Vielgestaltigkeit“ entspricht die variable Verwendung vieler onkologischer Arzneimittel in verschiedenen Therapielinien. Die Abbildbarkeit der daraus entstehenden Unterschiede ist noch ungeklärt, so Wasem weiter. In diesem Zusammenhang, so der Hinweis der Autoren, erscheint es „sachgerecht, in der Onkologie bei Nutzen- und Kosten-Nutzen-Bewertungen alternative patientenrelevante Effektmaße […] festzulegen“. Diese Kriterien zur Nutzenbestimmung von Medikamenten sind auf Patientenseite ebenso komplex wie die jeweiligen Indikationen und Therapieformen. Das bisher erfasste Gesamtüberleben als „harter klinischer Endpunkt“ erweist sich als zu undifferenziert und sollte um alternative Effektmaße ergänzt werden, so z. B. die Zeit des krankheitsfreien Überlebens oder die Zeit bis zum Fortschreiten einer Erkrankung.

Die Einschätzung der Kostenarten, die Wahl der Perspektive und die Festlegung von Schwellenwerten haben entscheidenden Einfluss auf die Leistungserstattung. Daher ist die Einbindung weiterer Experten unabdingbar. Zu berücksichtigen ist insbesondere, inwieweit ein „starrer Schwellenwert“ in Deutschland „rechtlich und gesellschaftlich gangbar“ ist.

Zur Klärung dieser Probleme raten die Autoren zur Durchführung eines Sichtungsworkshops.

Mit etwa 436.000 Neuerkrankungen und über 208.000 Todesfällen pro Jahr haben sich bösartige Neubildungen in den letzten Jahren zu einer Volkskrankheit entwickelt. Entsprechend intensiv wird zu allen Bereichen von Krebserkennung, -behandlung, -vorbeugung geforscht. „Die Überlebenschancen der Patienten erhöhen sich dadurch deutlich, die Kosten ihres Überlebens jedoch ebenso. Diese Situation erfordert eine fundierte, ebenso nüchterne wie ethisch engagierte Prüfung von Kriterien, anhand derer entschieden werden kann, welche medikamentösen Therapien für die Patienten sozialrechtlich zugelassen werden“, erklärt Prof. Hohenberger abschließend und verspricht, dass sich die Deutsche Krebsgesellschaft mit ihrem Mandat von über 6.000 Mitgliedern in der immer dringender werdenden Diskussion zum Wohle der Patienten einsetzen wird.