Umstrittene Studie: US-Forscher halten bisherige Schätzungen zu den Entwicklungskosten von Krebsmedikamenten für zu hoch

Anke Brodmerkel

Interessenkonflikte

22. September 2017

Um ein neues Krebsmedikament auf den Markt zu bringen, muss ein Unternehmen im Mittel eine Summe von rund 648 Millionen US-Dollar (umgerechnet knapp 543 Millionen Euro) aufbringen. Zu diesem Ergebnis kommen die US-Onkologen Dr. Vinay Prasad von der Oregon Health and Science University in Portland und Dr. Sham Mailankody vom Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York im Fachblatt JAMA Internal Medicine [1].

Die Berechnungen zeigten, dass frühere Schätzungen zu den Forschungs- und Entwicklungskosten (Research and Development, kurz R&D) der Pharmaindustrie deutlich zu hoch seien, schreiben die Forscher. Der von ihnen ermittelten, vergleichsweise niedrigen Summe stünden zudem beachtliche Einnahmen der Unternehmen gegenüber. So hätten die 10 von ihnen ausgewählten Firmen seit der Zulassung ihrer Medikamente im Mittel pro Präparat 1,66 Milliarden US-Dollar (rund 1,39 Milliarden Euro) erwirtschaftet.

Experten streiten über die Aussagekraft der aktuellen Berechnung

Die Analyse liefere eine transparente Einschätzung der R&D-Kosten für Krebsmedikamente und müsse sich auf die gegenwärtige Debatte um zu hohe Arzneimittelkosten auswirken, sind die Autoren der Studie überzeugt. Unterstützung erhalten sie von dem US-Journalisten Merrill Goozner, Redakteur der in Chicago erscheinenden Wochenzeitschrift Modern Healthcare und Autor des Buches „The $800 Million Pill: The Truth Behind the Cost of New Drugs“. Es handele sich bei der Publikation von Prasad und Mailankody um ein dringend notwendiges Korrektiv zu früheren Berechnungen, die teilweise mehr als 4-mal so hohe Kosten ermittelt hätten, schreibt Goozner in einem Kommentar in JAMA Internal Medicine [2].

Prof. Dr. Michael Schlander

Ganz anderer Ansicht ist Prof. Dr. Michael Schlander, Leiter der Abteilung Gesundheitsökonomie des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) in Heidelberg und Professor für Gesundheitsökonomie an der Universität Heidelberg. „Ich halte diese Studie, so wie sie gemacht ist, für sehr problematisch, da ihre Ergebnisse irreführend sind“, sagt Schlander im Gespräch mit Medscape.

„Die Autoren übersehen, dass die vermeintliche Stärke ihrer Analyse tatsächlich zu deren gravierendsten Schwächen zählt: die Auswahl 10 erfolgreicher Start-Ups, die zumindest ein Mittel zur Marktreife gebracht haben.“ Die vielen Unternehmen, die diesbezüglich gescheitert seien, blieben in den Berechnungen völlig außen vor, bemängelt der DKFZ-Experte.

Tatsächlich haben sich Prasad und Mailankody für ihre Studie auf 10 noch relativ junge Unternehmen beschränkt, die zwischen Januar 2006 und Dezember 2015 lediglich ein Krebsmedikament erfolgreich auf den Markt gebracht haben. Auf diese Weise wollten die Forscher sicherstellen, dass das vergleichsweise hohe Risiko, mit einem neu entwickelten Präparat auf dem Weg zur Zulassung zu scheitern, in ihre Berechnungen miteinfließt.

 
Ich halte diese Studie, so wie sie gemacht ist, für sehr problematisch, da ihre Ergebnisse irreführend sind. Prof. Dr. Michael Schlander
 

Die Werte für die R&D-Kosten und die Einnahmen seit der Zulassung der Medikamente durch die FDA erhielten die Forscher von der US-amerikanischen Börsenaufsichtsbehörde SEC (United States Securities and Exchange Commission), die auf ihrer Internetseite öffentlich einsehbare, standardisierte Jahresberichte der Unternehmen zur Kontrolle des Wertpapierhandels – sogenannte 10-K-Berichte – bereithält. Zusätzlich berücksichtigten Prasad und Mailankody jährliche Kapital- und Opportunitätskosten in Höhe von 7%. Alle Zahlen wurden darüber hinaus inflationsbereinigt.

Im Mittel 7,3 Jahre bis zur Marktreife

Wie die Forscher berichten,

  • benötigten die 10 Firmen im Mittel 7,3 Jahre, um ein Medikament zu entwickeln,

  • wurde die Hälfte der untersuchen Wirkstoffe in einem beschleunigten Verfahren zugelassen,

  • betrugen die Kosten für die Entwicklung der Präparate im Mittel 648 Millionen US-Dollar,

  • betrugen die Einnahmen für die 10 entwickelten Präparate (seit dem Datum ihrer Zulassung bis Dezember 2016 oder dem Zeitpunkt, an dem ein Unternehmen seine Lizenz an eine andere Firma verkaufte) insgesamt 67 Milliarden US-Dollar,

  • lagen diese Einnahmen im Mittel bei 1,6 (und im Durchschnitt bei rund 6,7) Milliarden US-Dollar.

  
Die Schlüsse, die man aus diesen Ergebnissen ziehen müsse, seien eindeutig, schreibt der Journalist Goozner in seinem Kommentar: Die derzeitige Preispolitik der Pharmaindustrie stehe in keinem Verhältnis zu den Forschungs- und Entwicklungskosten für ein neues Medikament. Die politischen Entscheidungsträger könnten daher getrost Schritte unternehmen, um die Höhe der Arzneimittelkosten zu begrenzen, ohne dadurch nötige Innovationen zu gefährden, so Goozner.

 
Doch in meinen Augen ist die vorliegende Analyse alles andere als geeignet, um daraus politische Konsequenzen abzuleiten. Prof. Dr. Michael Schlander
 

8 der 10 untersuchten Medikamente sind für seltene Erkrankungen zugelassen

Der Gesundheitsökonom Schlander hält solche Schlussfolgerungen für einseitig. Natürlich seien die Kosten für Arzneimittel ein wichtiges Thema, sagt er, und sicherlich fänden sich zahlreiche Beispiele für exorbitante Preise der Pharmaindustrie. „Doch in meinen Augen ist die vorliegende Analyse alles andere als geeignet, um daraus politische Konsequenzen abzuleiten“, betont er.

Schlander begründet seine Ansicht mit mehreren statistischen Verzerrungen, die alle in die gleiche Richtung gingen und die geschätzten Kosten nach unten beschönigen würden. Neben dem Selektionsbias aufgrund der Auswahl von 10 erfolgreichen Start-ups kritisiert der Wissenschaftler auch die Wahl der untersuchten Medikamente. „Mindestens 8 der 10 Mittel sind Orphan Drugs“, sagt er. „Wir wissen aber, dass die Kosten, um Medikamente für seltene Erkrankungen auf den Markt zu bringen, im Schnitt deutlich niedriger sind.“ Das liege an den leichteren Zulassungsbedingungen: In der Regel verlange die FDA bei diesen Wirkstoffen kleinere Probandenzahlen in den Zulassungsstudien als bei anderen Präparaten.

Die Hälfte der analysierten Medikamente ohne Phase-3-Studie

Ein weiterer Aspekt der Studie, den Schlander kritisiert, besteht darin, dass die Hälfte der in der Analyse berücksichtigten Wirkstoffe bislang keine Phase-3-Studie durchlaufen habe. Allerdings lägen Forderungen von Seiten der FDA vor, diese nachzuliefern. „Das heißt, die Ausgaben für Forschung und Entwicklung sind noch gar nicht abgeschlossen“, sagt Schlander. Darüber hinaus seien die jährlichen Kapital- und Opportunitätskosten mit 7% recht niedrig angesetzt, bemängelt der DKFZ-Experte. Betrachte man all diese Punkte, könne man nicht ausschließen, dass hinter der Analyse von Prasad und Mailankody politische Absicht stecke.

 
Wir wissen aber, dass die Kosten, um Medikamente für seltene Erkrankungen auf den Markt zu bringen, im Schnitt deutlich niedriger sind. Prof. Dr. Michael Schlander
 

„Es gibt rund ein Dutzend unabhängiger Studien, die auf ähnliche Größenordnungen kommen wie die von den Autoren so stark kritisierte Analyse, die ein Team um Joe DiMasi vom Tufts Center for the Study of Drug Development im Jahr 2016 vorgenommen hat“, sagt Schlander. DiMasi und seine Kollegen waren in ihrer Analyse auf R&D-Kosten von rund 2,7 Milliarden US-Dollar pro Präparat gekommen. „Trotz teilweise sehr unterschiedlicher Methodik liefern diese Publikationen ein konsistentes Bild“, so Schlander – das unter anderem zeige, wie stark die Kosten für Forschung und Entwicklung in den vergangenen Jahren gestiegen seien.



REFERENZEN:

1. Prasad V, et al: JAMA Intern Med. (online) 11. September 2017

2. Goozner M: JAMA Intern Med. (online) 11. September, 2017

Kommentar

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