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Antwort auf: FAQ: Was ist eine Leitlinie? Was ist eine Richtlinie?

| Beitrags-ID: 292019

Leitlinien hinken oft hinterher, warum soll ein Patient nicht von neuen Erfahrungen Nutzen ziehen können.

Hallo,

ja das stimmt (aber auch nicht s.u.), da bei Leitlinien eine Vielzahl von Ärzten unterschiedlicher Fachrichtungen sich zusammensetzen und gemeinsam diese Empfehlungen erarbeiten. Solche Abstimmungsprozesse kann man natürlich nicht ständig durchführen, weil diese recht mühsam sind, weil es selten Studien gibt, die alle vom gleichen Patientenkollektiv ausgehen, 100% das gleiche Ergebnisse haben, und nur eine einzige Antwort zu lassen.

Die deutschen Leitlinien werden nun in einem langwierigen Prozess überarbeitet, die neueren amerikanischen und europäischen Leitlinien berücksichtigen natürlich die neusten Studien bis zu ihrem Erstellungs-Datum (2005 bzw. 2006).

Da es eben nur selten in der Medizin eindeutige Antworten gibt (dann sind bzw. werden dies auch Richtlinien), geben die amerikanischen Leitlinien zur ihren Empfehlungen auch immer die Evidenzgrade an:
(Grad der Empfehlung; in Klammer die amerikanische Klassifikation; bei den deutschen Leitlinien wird es auf Anregung von mir eine numerische Skala geben)

+3 (A) Sehr zu empfehlen: eindeutige Evidenz aus gut geplanten und durchgeführten Outcome-Studien in repräsentativen Populationen

+2 (B) Zu empfehlen: ausreichende Evidenz aus weniger guten Studien mit Hinweisen auf eine Beeinflussung des Outcomes

+1 (C) Zu empfehlen: auf der Basis von Experten-Meinung(en)

+-0 (I) „Weder noch“: unzureichende Evidenz für eine Beurteilung von Nutzen und Risiken

-1 (D) Nicht zu empfehlen: auf der Basis von Experten-Meinung(en)

-2 (E) Nicht zu empfehlen: ausreichende Evidenz mit Hinweisen auf eine fehlende Beeinflussung des Outcomes oder von Risiken

-3 (F) Absolut nicht zu empfehlen: eindeutige Evidenz mit Hinweisen auf eine fehlende Beeinflussung des Outcomes oder von Risiken

Dadurch dass die einzelnen Empfehlungen begründet werden müssen, und zu dem der jeweilige Empfehlungsgrad angegeben werden muss, sind diese Leitlinien für uns ein wichtiges Instrument, um die Qualität einer Klinik beurteilen zu können.

Die europäischen Leitlinien orientieren sich an diesem hohen Standard der amerikanischen Leitlinien.
Die europäischen Leitlinien geben zwar für ihre einzelnen Empfehlungen Begründungen (Literatur-Angaben) an, für uns Laien ist jedoch nicht leicht ersichtlich, ob dies dann jeweils auf guten Studien beruht (+3 und -3) oder ob dies lediglich Fallbeschreibungen sind (Expertenmeinungen) (+1 und -1)

In den deutschen Linien finden sich hingegen gar Tabellen mit Behandlungs-Schemata ohne irgendwelche näheren Begründungen, in der Form, was man alles machen kann. Selbst in der leicht überarbeiteten Druck-Version von 2006 findet sich im „Basisprogramm“ immer noch „Röntgen des Thorax alle zwei Jahre“, und auch Literatur-Angaben sind äußerst spärlich. Eine solche Leitlinie taugt natürlich so gut wie gar nichts für uns Patienten.

Wenn ein Arzt von den Leitlinien mit hohem Standard wie den amerikanischen (und mit Einschränkung den europäischen Leitlinien) in seiner Therapie abweichen möchte, dann können wir auf Grund seiner Begründungen und den Empfehlungen in den Leitlinien für uns persönlich besser entscheiden, ob wir dem Arzt oder den Leitlinien folgen möchten.

Leider äußern Ärzte manchmal so oder ähnliche Sätze:

Es gibt Erfahrungen, dass ein Teil der nicht therapierten Patienten auch nach einem Mikrokarzinom nach 10- 15 Jahren Fernmetastasen gebildet haben.

Dies sagt überhaupt nichts über den Nutzen einer Radiojodtherapie beim Mikrokarzinom aus.
Es gibt auch Fälle, wo Schilddrüsenkrebspatienten, die mit Radiojodtherapien (durchgefüht in Schilddrüsenunterfunktionen) therapiert wurden, nach 10-15 Jahren Fernmetastasen hatten. Solche Einzelfälle sagen nunmal nichts über den Nutzen einer Therapie aus. Aufgrund dieser Einzelfälle könnte man ja auch den irrigen Schluss ziehen, eine RJT bringt überhaupt nichts.

Ein Arzt ist verpflichtet die Aufklärung über Behandlungsalternativen so durchzuführen, dass der Patient sich eine eigene Meinung bilden kann. Das Aufführen von Einzelfällen (wie oben angeführt) dient jedoch lediglich zur Verunsicherung des Patienten, und versetzt den Patienten nicht in die Lage, sich eine eigene Meinung zu bilden.

Gute Leitlinien – basierend auf Studien – sind daher für uns Patienten extrem wichtig. Ärzte, die Leitlinien pauschal ablehnen, und nicht – am Besten mit Hinweisen auf gute Studien – begründen, warum sie von den Leitlinien abweichen wollen, finde ich, sollten nicht unser Vertrauen genießen.

Auf unser Online-Mitgliederversammlung 2007 hat unser Verein Bundesverband Schilddrüsenkrebs – Ohne Schilddrüse leben e.V. denn auch folgende Punkte zu den Leitlinien beschlossen:

  1. Leitlinien (Empfehlungen der Fachgesellschaften) werden in der Regel im Konsensverfahren beschlossen, was zur Folge hat, dass bei Kontroversen für Außenstehende nicht ersichtlich ist, welche Gründe für und gegen eine Empfehlung gesprochen haben.
    Wir Patienten wünschen uns daher, dass gegensätzliche Meinungen in den Leitlinien öffentlich gemacht werden, in dem die abweichenden Meinungen namentlich begründet werden.
  2. Medizinische Studien führen sehr selten zu eindeutigen Schlussfolgerungen (nur dann werden diese zur Grundlage von Richtlinien). In den meisten Fällen fließen die Ergebnisse lediglich in Leitlinien ein, die Empfehlungen z.B. für eine bestimmte Therapie geben.
    Leitlinien sollten dies berücksichtigen, indem sie
    – auf Studien mit entsprechenden Evidenzgraden verweisen und
    – das Für und Wider einer Therapie/Diagnostik öffentlich machen.
    Mit diesen Informationen lassen sich individuelle Risiken besser Fall-bezogen abwägen. Die Risikoabwägung sollte immer im Arzt-Patienten-Gespräch und gemeinsam von beiden erfolgen.
  3. Eine Schilddrüsenunterfunktion bei der Therapie und Nachsorge des Schilddrüsenkrebs ist ein schwerer körperlicher Eingriff, der nur dann erfolgen sollte, wenn er medizinisch notwendig ist.
  4. Wir Patienten wünschen uns eine verstärkte Kommunikation zwischen den einzelnen Fachdisziplinen (Chirurgen, Nuklearmediziner, Endokrinologen, Hausärzte, Onkologen …) und uns Patienten (in Selbsthilfe-Gruppen) auf lokaler bzw. regionaler Ebene. Dies kann z.B. geschehen durch interdisziplinäre lokale Fachkonferenzen unter der Leitung der Nuklearmedizin. Durch bessere Kommunikationsstrukturen lässt sich die Qualität einer bestimmten Therapie besser gewährleisten und eventuelle Defizite in der Qualität sind leichter sichtbar zu machen und zu kommunizieren.

Viele Grüße
Harald